Kita-Ausbau, Ganztagsbetreuung und das Rätsel um die Fachkräftelücke
Demografischer Wandel, Fachkräftelücke, Bildungsgerechtigkeit – viele große Zukunftsfragen hängen eng zusammen. Klassische Prognosemodelle betrachten diese Themen jedoch häufig isoliert. Genau hier setzt InnoTwin an, ein vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR) gefördertes Forschungsprojekt von kaleidemoskop und der Digital Business University (DBU). Ziel ist es, einen digitalen Zwilling der deutschen Gesellschaft zu entwickeln, der komplexe Wirkungsketten realitätsnah simulieren kann.
Warum gerade Kitas?
„Der Ausbau der Kita-Infrastruktur ist eine der wenigen Pareto-Verbesserungen, um den Fachkräftemangel zu lösen.“ Hauke – Projektteam
Kitas eröffnen Eltern – vor allem Müttern – den Weg zurück in den Beruf. Jeder zusätzliche Betreuungsplatz setzt wertvolles Arbeitskräftepotenzial frei, ohne an anderer Stelle spürbare Nachteile zu verursachen. Deshalb konzentriert sich InnoTwin zunächst auf den Ausbau der Kinderbetreuung.
Aus Daten wird Entscheidungshilfe
Das Projekt arbeitet mit agentenbasierter Modellierung (ABM). Jede „Agentin“ repräsentiert eine reale Person mit Merkmalen wie Alter, Beruf, Einkommen oder Familienstatus. Dank dieser Detailtiefe können die Forschenden untersuchen, wie zusätzliche Kita-Plätze, veränderte Elternzeitregelungen oder regionale Unterschiede das Gesamtsystem beeinflussen.
„Wenn ich denselben Input zehnmal ins Modell gebe, erhalte ich zehn unterschiedliche Ergebnisse.“ – Hauke
Die in das Modell eingebauten Zufallsprozesse machen sichtbar, welche politischen Entscheidungen unter vielen Zukunftsszenarien robust bleiben. So wird das System zu einem leistungsfähigen Entscheidungsassistenztool.
Herausforderungen
Ost-West-Gefälle: In Ostdeutschland sind Kitas im Schnitt günstiger; in Westdeutschland zahlen Eltern teils hohe Beiträge. Das prägt Nachfrage und Belegungsquoten (Haller et al., 2025).
Bedarfsdynamik: Wo weniger Eltern einen Platz suchen, gibt es überproportional wenig Plätze – ein selbstverstärkender Kreis (Bock-Famulla et al., 2023).
Väter in Elternzeit: Nur etwa jeder zehnte Vater nimmt länger als zwei Monate Elternzeit; gleichzeitig steigt ihr Einkommen und ihre Erwerbstätigkeit nach der Geburt häufig sogar an (Brehm et al., 2022).
Arbeitsmarkteffekt: Studien legen nahe, dass pro Prozent zusätzlicher U3 Kita-Plätze die mütterliche Erwerbsbeteiligung um rund 0,2 % wächst – ein deutlich größerer Effekt als etwa eine Reform des Ehegattensplittings bringen könnte. (Blömer & Peichl, 2023; Müller & Wrohlich, 2020)
„Noch nie hat zuvor jemand die Folgeeffekte bis auf einzelne Berufsgruppen heruntergebrochen – genau das leisten wir jetzt.“ – Hauke
Von der Simulation zur Umsetzung
Mit InnoTwin lassen sich Szenarien bis auf Kommunenebene herunterbrechen:
In welchen Landkreisen lohnt es sich, Personalinvestitionen zu priorisieren? In welcher Kommune werden welche Fachkräfte frei? Gibt es Regionen, in denen zusätzlicher Ausbau kaum Wirkung zeigt?
So können politische Entscheider*innen Maßnahmen testen, bevor sie Milliarden investieren, und Eltern erhalten wissenschaftlich fundierte Informationen über Bildungs- und Arbeitsmarktvorteile.
„Am Ende sind es politische Funktionsträger*innen, die die Weichen für einen adäquaten Kita-Ausbau stellen müssen.“ – Hauke
Ausblick
In Zukunft plant das Team, das Modell zu erweitern:
Finanzierungsmodelle: Wie wirken Gebührenfreiheit oder einkommensabhängige Beiträge?
Ganztagsbetreuung & Schule: Welche Langfristeffekte ergeben sich, wenn Kinder ganztägig betreut werden?
Migration & Mobilität: Verschieben sich Arbeitskräfte räumlich, wenn bestimmte Regionen stark ausbauen?
Damit entsteht Schritt für Schritt ein umfassender digitaler Zwilling, der weit über die Kita-Frage hinausreicht – ein Werkzeug, das hilft, Wohlstand, Gleichberechtigung und Fachkräftesicherung in Einklang zu bringen.
Kurz & knapp: InnoTwin zeigt schon jetzt, dass gezielter Kita-Ausbau einer der effektivsten Hebel gegen den Fachkräftemangel ist – und liefert erstmals belastbare Zahlen bis auf Berufsgruppenniveau. Die kommenden Projektphasen versprechen noch feinere Analysen und konkrete Handlungsempfehlungen.